Eine integrative Sichtweise, die körperliche, psychische und soziale Faktoren berücksichtigt, ist bei allen Krankheiten und in allen Disziplinen in der Medizin erforderlich. Auf der Basis dieser Überlegungen ist Psychosomatik kein Fachgebiet, sondern eine grundlegende Betrachtungsweise, die in allen Bereichen der medizinischen Versorgung etabliert sein sollte.

 

 

 

Stellungnahme der
Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (ÖGPP)

 

Konsiliar-/Liaison-Psychiatrie und Psychosomatik
in Österreich

als Auftrag der Sektion Konsiliar-/Liaison-Psychiatrie und Psychosomatik
(Gmunden 25.04.2013)
(Letztversion März 2016)

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Teilnehmer (in alphabetischer Reihenfolge, ohne Titel):

Martin AIGNER
Sabine FRADL
Renate GROSS
Wilhelm KANTNER-RUMPLMAIR
Hans-Peter KAPFHAMMER
Hertha MAYR
Christa RADOS
Angelika RIESSLAND-SEIFERT
Hans-Bernd ROTHENHÄUSLER
Barbara SPERNER-UNTERWEGER
Manfred STELZIG
Johannes WANCATA
Margit WROBEL

 

 

ZUSAMMENFASSUNG:

 

Eine integrative Sichtweise, die körperliche, psychische und soziale Faktoren berücksichtigt, ist bei allen Krankheiten und in allen Disziplinen in der Medizin erforderlich. Auf der Basis dieser Überlegungen ist Psychosomatik kein Fachgebiet, sondern eine grundlegende Betrachtungsweise, die in allen Bereichen der medizinischen Versorgung etabliert sein sollte.

Daneben wird Psychosomatik ebenso wie Konsiliar-/Liaison-Psychiatrie als Arbeitsbereich angesehen, welcher an der Nahtstelle zwischen Psychiatrie und den somatisch-medizinischen Fächern angesiedelt ist. Dieser Arbeitsbereich ist auf die Diagnostik und Therapie von PatientInnen spezialisiert, die sowohl unter psychischen als auch somatischen Erkrankungen leiden.

Eine weitere Definition von Psychosomatik beschreibt ein spezialisiertes psychiatrisch/psychotherapeutisches Behandlungsangebot für PatientInnen mit ausgewählten Erkrankungen, wie z.B. somatoformen Störungen und Essstörungen.

In den beiden zuletzt genannten Beschreibungen stellt die Psychosomatik einen Teilbereich des Faches Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin dar. Als Minimalversorgungsstruktur sollte jedes Krankenhaus mit einem psychiatrisch-psychotherapeutischen Konsiliardienst ausgestattet sein, der in enger Kooperation mit anderen psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungsstrukturen fungiert.

Der Teilfachbereich Konsiliar-/Liaison-Psychiatrie und Psychosomatik (KLPP) leistet einen wichtigen Teil innerhalb der akutmedizinischen Versorgung der Bevölkerung. Neben Stationen, die ein spezialisiertes psychiatrisch/psychotherapeutisches Behandlungsangebot für PatientInnen mit ausgewählten Erkrankungen anbieten, können manche dieser Kranken auch in einer Tagesklinik oder Ambulanz versorgt werden. Derartige Angebote sind primär an Schwerpunkt- bzw. Zentralkrankenhäusern anzusiedeln, wobei aber bei der Planung die regionalen Möglichkeiten und Gegebenheiten zu berücksichtigen sind. Welche der Angebotsstrukturen vorgehalten werden, wird auch vom Profil und der Größe der Krankenanstalt abhängen.

Dabei ist immer eine enge Kooperation und Abstimmung mit anderen psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungsstrukturen erforderlich. Außerdem ist immer das Prinzip „ambulant vor tagesklinisch vor stationär“ zu berücksichtigen.

Die Personalausstattung basiert auf einer multiprofessionellen Zusammensetzung der Teams und ist auch durch interdisziplinäre Kooperationen geprägt. Die ärztliche Leitung obliegt einer/m erfahrenen FachärztIn für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin.

 

I.           PROLOG

 

Zahlreiche körperliche Erkrankungen wie Diabetes, Malignome, Insult oder Myokardinfarkt gehen gehäuft mit Depressionen, Alkohol- bzw. anderer Substanzabhängigkeit, deliranten Zuständen und verschiedensten anderen psychischen Krankheiten einher [Arolt et al. 1997, Wancata et al. 1996]

Eine Vielzahl von Studien zeigen, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen häufiger an somatischen Erkrankungen leiden als die Allgemeinbevölkerung [Leucht et al. 2007]. Auch die Lebenserwartung psychisch Kranker ist auch aufgrund eines erhöhten Risikos an somatischen Erkrankungen zu sterben, erniedrigt. Für die verkürzte Lebenserwartung verantwortlich sind unter anderem eine erhöhtes Krankheitsrisiko für Diabetes mellitus, Malignome, Infektionskrankheiten, Magen-Darm-Krankheiten und kardiovaskuläre Erkrankungen [Harris & Barraclough 1998].

Wir wissen also, dass viele körperliche Krankheiten eine erhöhte psychische Komorbidität zeigen, ebenso wie viele psychische Krankheiten eine erhöhte somatische Komorbidität zeigen. Die Gründe für diese erhöhte bi-direktionale Komorbidität sind häufig nur bruchstückhaft bekannt.

Nach heutigem Stand der Forschung können biologische, lebensgeschichtliche und soziale Faktoren Noxencharakter haben und auf diese Weise zur Entstehung von Krankheiten beitragen. Der Einfluss von Umgebungsfaktoren und individuell-biographischer Erfahrung auf das neuronale Substrat kann als klar belegt gelten [Kandel 1998, Hyman 2000]. Die biopsychosoziale Grundannahme, dass es zu jedem seelischen Vorgang einen entsprechenden neurophysiologischen Ablauf gibt und umgekehrt, ist heute weitgehend gesichert.

Nach heutigem Wissensstand gibt es fast kein körperliches Krankheitsbild, bei dem nicht auch seelische und soziale Aspekte bei der Entstehung und dem Verlauf eine wichtige Rolle spielen können. Nahezu jede körperliche Krankheit kann psychische und soziale Folgen haben, die in der Therapie berücksichtigt werden müssen. Nahezu jede psychische Krankheit kann somatische und soziale Folgen haben, die in der Therapie berücksichtigt werden müssen. Insofern sind nahezu alle körperlich Kranken auch psychosomatisch krank. Es ist daher enorm wichtig, diese seelischen und sozialen Aspekte körperlicher Krankheiten auch in der studentischen Lehre und in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung entsprechend zu berücksichtigen und damit allen Fächern zugänglich zu machen.

Körperliche Krankheiten werden ebenso wie psychische Erkrankungen nach heutigem Wissen in ihren Ursachen und Verlaufsformen mit mehrdimensionalen Konzepten betrachtet. Dies führt auch zu einer mehrdimensionalen Diagnostik und Therapieführung. In diesem Zusammenhang muss jede eindimensionale oder monokausale Theoriebildung als überholt beurteilt werden. Immer müssen Interaktionen zwischen Lebensgeschichte, sozialem Umfeld und Biologie berücksichtigt werden. Eine integrative Sichtweise, die körperliche, psychische und soziale Faktoren berücksichtigt, ist bei allen Krankheiten und in allen Disziplinen der Medizin erforderlich – wie dies seit Langem in der Psychiatrie Standard ist.

Dieses Positionspapier soll einen Beitrag dazu leisten, dass psychische Erkrankungen von PatientInnen frühzeitig erkannt und adäquat behandelt werden. Dies inkludiert das Ziel, dass eine umfassende biopsychosoziale Betrachtungs- und Herangehensweise in allen medizinischen Disziplinen verankert ist und von den unterschiedlichen Berufsgruppen, die in der medizinischen Versorgung tätig sind, im medizinischen Alltag umgesetzt werden kann.

Aufgrund der historischen Entwicklung sind verschiedene psychosomatische Strukturen in der medizinischen Versorgungslandschaft Österreichs etabliert. Im Sinne der betroffenen PatientInnen sollen die unterschiedlich gewachsenen Strukturen nicht in Frage gestellt werden.

Für die zukünftige Entwicklung erscheint eine transparente Positionierung von psychosomatischen Akutbehandlungsangeboten und den entsprechenden Versorgungsstrukturen in erster Linie innerhalb der Psychiatrie sinnvoll. Dadurch können einerseits unterschiedliche inhaltliche Entwicklungen und vor allem unterschiedlich hohe Versorgungsstandards vermieden werden und andererseits kann die Etablierung von sich konkurrierenden Parallelstrukturen verhindert werden. Dies entspricht auch den internationalen Gegebenheiten und den Ausbildungsvorgaben der Union Européenne des Médecins Spécialistes (UEMS [2009]) in Europa. In diesem Zusammenhang ist auch festzuhalten, dass die Krankheitsbilder, die primär an psychosomatischen Einrichtungen diagnostiziert und behandelt werden, nach internationalen  klinisch diagnostischen Leitlinien (ICD bzw DSM ) unter den psychischen Störungen aufgelistet sind. Eine adäquate Behandlung dieser Krankheitsbilder beinhaltet immer auch eine psychotherapeutische Interventionsebene. In Österreich hat nur die Facharztausbildung „Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin“ obligatorisch eine psychotherapeutische Ausbildung im Curriculum verankert.

 

II.         Definitionen

 

A.         Konsiliar-/Liaison-Psychiatrie

 

“Consultation-/Liaison psychiatry is concerned with the clinical service, teaching and research in settings where psychiatry and the rest of medicine meet“(Lipowski, 1983). Dieser Definition zufolge ist die Konsiliar-/Liaison-Psychiatrie ein Teilgebiet des Faches Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, das auf die Diagnostik und Therapie psychischer Komorbiditäten bei PatientInnen spezialisiert ist, die mit körperlichen Erkrankungen oder Symptomen in einer medizinischen Einrichtung, insbesondere in einem Allgemeinkrankhaus, behandelt werden.

Neben den klassischen psychiatrisch-psychotherapeutischen Konsiliar-/ Liaisonmodellen werden entsprechend den klinischen Bedürfnissen neue Kooperationsformen entwickelt, wie zum Beispiel interdisziplinäre Ambulanzen, Tageskliniken bzw. Behandlungsplattformen, zum Beispiel für genetische Erkrankungen, gastrointestinale Erkrankungen, Schmerz, Schwindel, etc., weiters interdisziplinäre Projekte zur Behandlungsverbesserung, zum Beispiel zur Prävention und Therapie des Delirs und auch interdisziplinäre Stationen/Units [Lederbogen et al. 2008] zur gemeinsamen Behandlung von PatientInnen mit ausgeprägter somatischer und psychischer Ko-Morbidität.

Für die Konsiliar-/Liaison-Psychiatrie gilt, dass einerseits der Schwerpunkt in der psychiatrisch/ psychotherapeutischen Behandlung der PatientInnen liegt, andererseits erhält durch das Liaisonmodell die Arbeit mit den Zuweisern bzw. mit den in den somatischen Fächern tätigen MitarbeiterInnen einen wichtigen Stellenwert, in dem durch Lehre sowie Fort- und Ausbildung die psychosoziale Kompetenz der somatischen Teams erhöht werden soll.

Eine mittel- und längerfristige zufriedenstellende Arbeit im Bereich der Konsiliar-/ Liaison-Psychiatrie ist nur zu erzielen, wenn sowohl horizontal innerhalb des Krankenhauses eine enge interdisziplinäre Kooperation mit den verschiedensten medizinischen Disziplinen etabliert wird, wie auch eine intensive vertikale Vernetzung und Kooperation mit ambulanten und vor- bzw. nachgeordneten psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungs- und Behandlungsstrukturen entwickelt wird.

Von psychiatrisch-psychotherapeutischen Konsiliar-Liaison-Teams werden im Allgemeinen vier Gruppen von komplex erkrankten PatientInnen gesehen [Lyketsos et al. 2006]:

·       jene mit komorbider psychischer und körperlicher Erkrankung, wobei die eine Erkrankung die Behandlung der jeweils anderen erschwert,

·       jene, bei der die psychiatrische Erkrankung als direkte Folge der körperlichen Erkrankung zu sehen ist, z.B. Delir,

·       jene mit somatoformen Störungen und

·       Patienten mit akuter psychiatrischer Symptomatik, die an somatischen Abteilungen aufgenommen werden, z.B. nach Suizidversuch.

PatientInnen, die mit psychischen Krankheiten im somatischen Versorgungsnetz Hilfe suche, stellen eine zahlenmäßig große Gruppe dar [Katschnig et al. 2004]. Das Allgemeinspital nimmt hier grundsätzlich eine Filterfunktion hinsichtlich der Vermittlung unbehandelter psychisch Kranker ein, welche erstmalig - vermittelt über die somatischen Krankenhausärzte über den psychiatrischen-psychotherapeutischen Konsiliardienst mit dem psychiatrischen Versorgungssystem in Kontakt treten [Diefenbacher 2000].

 

Zu den häufigsten ICD-Diagnosen, die im psychiatrischen-psychotherapeutischen Konsiliar-/Liaisondienst gestellt werden, gehören:

F0      organische psychische Störungen incl. Demenz

F1      Abhängigkeitserkrankungen

F3      depressive Störungsbilder

F4      Anpassungsstörungen sowie somatoforme Störungen

Die personelle Zusammensetzung von psychiatrisch-psychotherapeutischen Konsiliar-Liaison-Diensten sollte multiprofessionell sein und außer FachärztInnen für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin z.B. Klinische PsychologInnen/PsychotherapeutInnen, Pflegekräfte, SozialarbeiterInnen, etc. umfassen.

 

 

B.         Psychosomatik

 

1.      Psychosomatik als Betrachtungs- und Herangehensweise in der medizinischen Behandlung:

„Psychosomatische Medizin“ ist ein relativ neuer Name für eine Form der Medizin, die so alt ist, wie die Heilkunde selbst. Es handelt sich um keine Fach-Spezialität sondern um eine Betrachtungsweise, die alle Disziplinen der Medizin betrifft, eine Betrachtungsweise, „die nicht etwa dem körperlichen weniger, sondern dem seelischen mehr Beachtung schenkt“ [Weiss & English 1943]. In diesem Sinn ist Psychosomatik kein eigenes Fachgebiet sondern eine Sichtweise bzw. eine Haltung, die in der medizinischen Behandlung insgesamt, das heißt in jedem medizinischen Fachgebiet, eingenommen wird.

Psychosomatik als Sichtweise bzw. als medizinische Grundhaltung geht davon aus, dass immer sowohl somatische als auch psychische und soziale Aspekte zu berücksichtigen sind – wie dies Standard in der Psychiatrie ist. Nach heutigem Wissensstand trifft dies ebenso auf körperlich Kranke zu, denn bei nahezu allen somatisch kranken PatientInnen können psychische und soziale Aspekte eine wichtige Rolle spielen und man müsste all diese Menschen eigentlich als psychosomatisch krank bezeichnen. Daher ist es wichtig eine psychosomatische Grundhaltung in allen medizinischen Disziplinen zu verankern und PatientInnen dementsprechend zu behandeln. Voraussetzung dafür ist, dass sowohl in der Lehre als auch in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung die psychischen und sozialen Aspekte somatischer Krankheiten entsprechend berücksichtigt werden und damit allen Fächern zugänglich  gemacht werden. Diesbezüglich kommt dem Fach Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin inklusive der Psychosomatik eine hohe Bedeutung zu. [Leentjens et als 2011].

 

 

2.      Psychosomatik als Verbindung/Interface zwischen Psychiatrie und Somatik:

Neben dieser psychosomatischen Grundhaltung transportiert der Begriff „Psychosomatik“ auch eine Entwicklung in der Psychiatrie, in deren Mittelpunkt die Verbindung zwischen Psyche und Soma steht. Diese enge integrative Kooperation der Psychiatrie mit der somatischen Medizin ist auch innerhalb der psychiatrischen Versorgungsstrukturen absolut notwendig, um die Herausforderungen in der medizinischen Versorgung im Sinne der betroffenen PatientInnen bewältigen zu können. Daher kann „Psychosomatik“ heute auch als verbindendes Element an der Nahtstelle zwischen Psychiatrie und den somatisch-medizinischen Fächern definiert werden.

Multi-Morbidität nimmt in der medizinischen Versorgung heute eine prominente Stellung ein. Neben anderen Faktoren führte die Entwicklung der Medizin zu einer grundlegenden Änderung der Bevölkerungsstruktur  sowie auch zu einer Veränderung in der Präsentation von Krankheitsbildern mit einer deutlichen Zunahme von chronischen Krankheitsverläufen, bei denen über viele Jahre relativ gute Behandlungsmöglichkeiten gegeben sind. Folge dieser insgesamt positiven Veränderungen in der Medizin ist allerdings auch ein vermehrtes gleichzeitiges Auftreten körperlicher und psychischer Störungen, ein Faktum, das den medizinischen Versorgungsalltag  zunehmend mehr bestimmt. Studien zeigen, dass die psychischen Ko-Morbiditätsraten bei chronischen somatischen Erkrankungen bei rund 45% [Wancata et al. 1998, Härter et al. 2007] liegen. Insgesamt sind komorbide somatopsychiatrische Krankheitsbilder die häufigste Erscheinungsform psychischer Störungen. Der Bedeutung der somato-psychischen Ko-Morbidität wird auch in einem „Expertenpapier“ der EU Rechnung getragen, in dem die Herausforderungen und notwendigen Fortschritte der klinischen Forschung zur psychischen Gesundheit in den nächsten sechs Jahren skizziert werden [van der Feltz-Cornelis et al., 2014].

Auch wenn bei körperlichen Erkrankungen wie der Gastritis oder dem Asthma bronchiale psychische und soziale Faktoren eine wichtige Rolle spielen, werden PatientInnen mit diesen Krankheitsbildern üblicherweise am besten von Gastroenterologen bzw. Pulmologen behandelt, die klarerweise auch die sozialen und psychischen Aspekte berücksichtigen müssen. Auch wenn bei psychischen Erkrankungen wie Depression oder Anorexie körperliche Aspekte eine wichtige Rolle spielen, werden diese Kranken am besten von PsychiaterInnen behandelt, die klarerweise auch die somatischen Aspekte berücksichtigen müssen. Auch wenn im Sinne der Subsidiarität die FachärztInnen der jeweiligen Fachgebiete all jene Kranken selbst versorgen, die sie selbst ausreichend behandeln können, sind häufig fachübergreifende Dienste und Einrichtungen nötig. In diesem Sinne wird die Entwicklung neuer und der Ausbau bestehender ko-operativer Modelle zwischen psychiatrischen und somatischen Behandlungsstrukturen zur qualitativen Verbesserung der medizinischen Versorgung auch von deutschen Experten gefordert [Kowitz et al., 2014].

Somatische Krankheiten mit psychischer Ko-Morbidität und psychische Krankheiten mit somatischer Ko-Morbidität erfordern eine enge und oft auch sehr spezifische Behandlungskooperation. Ein Teil dieser integrativen und kooperativen Behandlungsmöglichkeiten kann sehr gut durch psychiatrische Konsiliar-Liaison-Dienste für somatische Abteilungen und somatische Konsiliar-Dienste für psychiatrische Abteilungen abgedeckt werden.

Für manche dieser somatisch und psychisch ko-morbiden PatientInnengruppen sind aber spezifische psychiatrisch/psychotherapeutische Behandlungsstrukturen mit  differenzierten ambulanten, tagesklinischen oder stationären Therapieangeboten notwendig. Die Psychosomatik als Interface zwischen Psychiatrie und Somatik stellt daher ein Teilgebiet des Faches Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin dar, bei dem eine besonders enge Kooperation mit den somatischen Fächern besteht, die in der Erstellung komplexer Behandlungskonzepte für psychisch und somatisch ko- und multimorbide PatientInnen ihren Niederschlag findet.

 

 

3.   Spezialisierte stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlungsangebote für ausgewählte Gruppen von PatientInnen:

Für einige ausgewählte Gruppen von Kranken gibt es aus der Erfahrung Hinweise, dass diese von spezialisierten Stationen profitieren:

Somatoforme Störungen sind häufige psychische Erkrankungen. Ein großer Anteil dieser PatientInnen kann in einem ambulanten Setting ausreichend und erfolgreich behandelt werden. Ein kleiner Teil benötigt aber eine stationäre Behandlung an einer spezialisierten Einrichtung da sie auf die ambulante Behandlung nicht oder nicht ausreichend ansprechen. Bei einem Teil der Kranken sind ausgeprägte dissoziative Mechanismen zu finden. Immer wieder sind es gerade diese Kranken, die von einer Therapie in einem spezialisierten teil- oder voll-stationären Setting profitieren.

Personen, die unter Essstörungen leiden, haben eine deutlich erhöhte Sterblichkeit. Vor allem Anorexia nervosa ist jene psychische Krankheit, welche die höchste Sterblichkeit insgesamt aufweist. Hier spielen vor allem die zahlreichen möglichen körperlichen Komplikationen eine wichtige Rolle, die die Psychotherapie erschweren. Aus diesem Grund benötigen diese Kranken sehr häufig eine stationäre Aufnahme an einer dafür spezialisierten Station.

Die beiden letztgenannten Krankheitsbilder wurden manchmal auch mit dem Terminus „Psychosomatik im engeren Sinn“ bezeichnet. Stationen mit auf diese Krankheitsbilder spezialisierten psychotherapeutischen Angeboten behandeln erfolgreich auch Personen, die unter Persönlichkeitsstörungen oder Trauma-Folgeerkrankungen leiden. Die krankheitsbedingten Bedürfnisse dieser PatientInnen können oft an psychiatrischen Akutstationen nicht entsprechend berücksichtigt werden, während hingegen ein ambulante Therapie oft nicht ausreicht. Aus praktischen Gründen kann es sinnvoll sein, diese Krankheitsbilder in denselben spezialisierten Einrichtungen zu behandeln wie somatoforme Störungen oder Essstörungen.

 

 

 

III.       ENTWICKLUNG:

Konsiliar-/Liaison-Psychiatrie und Psychosomatik (KLPP)

 

Zwischen der Konsiliar-/Liaison-Psychiatrie und der „Psychosomatik“ als Teilbereichen des Fachgebietes Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin gibt es sehr viele inhaltliche Überschneidungen. Dem deutschen Sonderweg, neben der Psychiatrie ein eigenes Fachgebiet als „Psychosomatik“ aufzubauen, hat sich weltweit nur Lettland angeschlossen [Diefenbacher 2005]. Alle anderen Staaten haben die Konsiliar-/Liaison-Psychiatrie und „Psychosomatik“ als Teilbereich des Fachgebietes Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin etabliert, auch wenn die Bezeichnungen für diesen Teilbereich des Fachgebietes von Land zu Land unterschiedlich sind [Lobo et al. 2007, Wise 2007, 2014]. Unter Berücksichtigung von klassifikatorischen sowie versorgungsrelevanten und evidenzbasierten Zukunftsaspekten erscheint es aus pragmatischen Gründen zur Zeit  sinnvoll die Begriffe Konsilarpsychiatrie und Psychosomatik innerhalb des Fachbereichs Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin beizubehalten.

 

Vor dem Hintergrund der ökonomischen Herausforderungen an die medizinische Versorgung sollte vermieden werden, einander konkurrierende Versorgungsstrukturen für psychisch Kranke zu etablieren. Sogar in Deutschland wird vorgeschlagen, diese beiden Bereiche mehr zueinander hinzuführen. Ziel dabei ist eine positive Beeinflussung der Versorgungsstandards durch eine enge Kooperation zwischen Psychiatrie und den somatisch-medizinischen Fächern [Wolf et al. 2013].

Die Union Européenne des Médecins Spécialistes (UEMS [2009]) unterstreicht die wichtige Rolle der KLPP für die weitere Gesundheitsplanung bzw. -versorgung. Es wird dabei hervorgehoben, dass es für eine – auch ökonomisch sinnvolle – frühzeitige Diagnostik und Therapie von psychischen Erkrankungen entscheidend ist, als PsychiaterIn an den Orten verfügbar zu sein, an denen sich die betroffenen PatientInnen befinden, d.h. im Primärbereich und im Allgemeinkrankenhaus. Es wird betont, dass die integrative psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung als Teil des gesamten medizinischen Systems zu sehen ist und dass dieses nicht weiter diversifiziert werden soll.

 

A.         Module der Konsiliar-/Liaison-Psychiatrie und Psychosomatik (KLPP)

Folgende diagnostischen und therapeutischen Schwerpunkte sollen bei Neuplanungen und Nachbesetzungen von Behandlungseinrichtungen unter Berücksichtigung lokaler Bedürfnisse und Gegebenheiten beachtet werden.

Psychiatrischer Konsiliar-/Liaison-Dienst

Das primäre Arbeitsfeld liegt in der somatischen Medizin und bezieht sich auf körperlich kranke PatientInnen, die außerdem psychische Krankheiten aufweisen [Creed 2003].

Jedes Krankenhaus sollte über einen psychiatrischen Konsiliardienst als Minimalversorgungstruktur für Menschen mit psychischen Krankheiten verfügen.

Zu den primären Aufgaben gehören die Diagnostik sowie psychiatrisch-psychotherapeutische Interventionen in enger Kooperation mit somatischen Behandlungsteams. Zusätzliche Teaminterventionen zur Verbesserung der psychosozialen Kompetenz der somatischen Behandlungsteams werden empfohlen. Eine enge Kooperation mit anderen psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungsstrukturen ist erforderlich.

 

 

Spezialisierte Behandlungsstrukturen  für Psychosomatik im akut-medizinischen Versorgungsbereich

Die Zielgruppe stellen die oben beschriebenen diagnostischen Gruppen dar. Zu den Aufgaben gehören die Diagnostik sowie psychiatrisch-psychotherapeutische Interventionen. Häufig wird eine Kooperation mit somatischen Behandlungsteams erforderlich sein, weshalb auch eine räumliche Nähe zu empfehlen ist. Bei manchen PatientInnen wird es auch möglich sein, die Behandlung tagesklinisch durchzuführen.

Sowohl im tagesklinischen als auch im vollstationären Bereich sollen Behandlungsdauern bis zu 12 Wochen problemlos möglich sein, um auch für komplexe diagnostische und therapeutische Prozesse ausreichend Zeit zu haben.

Es kann auch sinnvoll sein, zusätzlich eine Spezialambulanz zur Vorbereitung der stationären Aufnahme bzw. zur Nachbehandlung vorzuhalten. Teilweise wird es auch möglich sein, nach Diagnostik und kurzdauernder Akutbehandlung die Kranken zu anderen ambulanten Behandlungseinrichtungen zu vermitteln.

Derartige stationäre Angebote sind primär an Schwerpunkt- bzw. Zentralkrankenhäusern anzusiedeln, wobei aber bei der Planung die regionalen Möglichkeiten und Gegebenheiten zu berücksichtigen sind. Welche der Angebotsstrukturen (Station, Tagesklinik, Ambulanz) vorgehalten werden, wird auch vom Profil und der Größe der Krankenanstalt abhängen. Dabei ist immer eine enge Kooperation und Abstimmung mit anderen psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungsstrukturen erforderlich. Außerdem ist immer das Prinzip „ambulant vor tagesklinisch vor stationär“ zu berücksichtigen.

 

 

B.         Aufgaben

Die primäre Aufgabe ist die psychiatrisch/psychotherapeutische Versorgung Diagnostik und Behandlung der PatientInnen sowie die Unterstützung deren Angehöriger.

Die zweite wichtige Aufgabe bezieht sich auf die Etablierung von integrativen Kooperationsformen zwischen psychiatrisch/psychotherapeutischen und somatischen Behandlungsstrukturen. Dies inkludiert unter anderem auch gemeinsame Fallbesprechungen und Behandlungsplanungen, aber auch interdisziplinäre „somatopsychische“ bzw. „psychosomatische“ Stationen (z.B. Psychiatrische Intermediate Care) oder Spezialambulanzen (z.B. interdisziplinäre Schmerztherapie).

Der dritte Aufgabenbereich bezieht sich auf eine fixe Verankerung in studentischer und postgradualer Lehre sowie Weiterbildung sowohl im medizinisch-interdisziplinären als auch in multiprofessionellen Bereichen. Damit soll gewährleistet werden, dass auch die nicht-ärztlichen Berufsgruppen entsprechend aus- und fortgebildet werden.

Als vierter wichtiger Aufgabenbereich ist die Entwicklung gemeinsamer wissenschaftlicher Forschungsprojekte bzw. auch eine wissenschaftliche Begleitevaluierung der etablierten Behandlungsstrukturen zu nennen.

 

 

C.         Ausstattung, Qualifikation, Verantwortung

 

Personal:

Die Notwendigkeit eines multiprofessionellen Zugangs ist zu unterstreichen und eine entsprechende Personalzusammensetzung aus FachärztInnen für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Klinischen PsychologInnen, PsychotherapeutInnen, psychiatrisch ausgebildeten Pflegepersonen sowie Ergo- und PhysiotherapeutInnen und SozialarbeiterInnen ist zu gewährleisten [Rießland-Seifert et al. 2007]. Zielführend ist auch die Kooperation mit FachärztInnen anderer Disziplinen (z.B. Innere Medizin, Neurologie, Dermatologie, etc.).

Die ärztliche Leitung obliegt einer erfahrenen FachärztIn für Psychiatrie und Psychotherapeutischen Medizin.

 

Betten, Behandlungsplätze:

Eine stärkere Einbindung der stationären Einrichtungen für Psychosomatik in die Strukturen des Fachgebietes Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin ist aus naheliegenden Gründen zu empfehlen. Es wäre anzudenken, im Österreichischen Strukturplan Gesundheit das Kapitel „Psychosomatik“ (PSO) in das Kapitel „Psychiatrie“ (PSY) auf dieselbe Weise einzugliedern, wie das bei den Abhängigkeitserkrankungen als PSY-Spezialversorgung bereits geschehen ist [Gesundheit Österreich GmbH 2012].

 

 

D.         Ausbildung:

Psychische Erkrankungen haben seit einigen Jahren einen wichtigen Platz im Studium der Humanmedizin. Dies ist eine wesentliche Grundlage, damit psychische Erkrankungen an somatischen Krankenhausabteilungen und im niedergelassenen somatischen Bereich frühzeitig erkannt und behandelt werden.

Im Rahmen der Facharztausbildung „Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin“ ist bereits jetzt die Rotation in den KLPP-Bereich vorgesehen. Eine spezifische postpromotionelle Weiterbildung soll über die Fachgesellschaft (ÖGPP) angeboten werden. Die von der Ärztekammer angebotenen PSY-Diplome stellen eine hervorragende Möglichkeit eines modularen Weiterbildungsprogramms für AllgemeinmedizinerInnen und FachärztInnen somatischer Fachgebiete dar. Außerdem ist die Berechtigung für die Ausbildung im Modul „Psychosomatische Medizin/Fachspezifische Schmerztherapie“ entsprechend der Ärzteausbildungsordnung 2015 anzustreben

 

 

Literatur:

 

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·       Lederbogen F, Kopf D, Hewer W: Interdisziplinäre Station für psychisch Kranke mit erheblichen somatischen Komorbiditäten - Konzept und Erfahrungen von 1985-2007. Nervenarzt 2008;79:1051-1058

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·       Wolf M, Arolt V,  Burian R, Diefenbacher A: Konsiliar-Liaison Psychiatrie und Psychosomatik – Ein Überblick. Nervenarzt 2013;84:639-650